1 Aug

Orcas vor La Gomera!

Kommentar: Orcas in Freiheit und Gefangenschaft

von Fabian Ritter

 

Zeichnung: Surina E. Ebsen

Zeichnung: Surina E. Ebsen

Der wissenschaftliche Name für Schwertwale lautet Orcinus Orca, was so viel bedeutet wie „dämonischer Dämon“. Bereits darin zeigt sich, dass dieses Tier von Anbeginn seiner Beziehungen mit Menschen gehörig verkannt wurde. Der Name erscheint dennoch nachvollziebar: Seine Größe, die auffällig schwarzweiße Zeichnung und seine Angewohnheit, auf alles Jagd zu machen und dabei auch Delfine und Wale nicht zu verschonen sind alles Eigenschaften, die man aus menschlicher Sicht leicht als bedrohlich interpretieren kann. Der englische Name “Killer whale” stammt auch von dieser Eigenschaften als “whale killer”.

Die Wissenschaft zeichnet inzwischen ein gänzlich neues Bild von Orcas. Als man begann, mit Hilfe von Freilandstudien Einblicke in das Sozialleben von Schwertwalen zu gewinnen, wurde schnell deutlich: Es handelt sich um außergewöhnlich soziale Tiere, deren familiärer Zusammenhalt mit kaum einer anderen Spezies zu vergleichen ist – Homo sapiens eingeschlossen. Orcas leben in Familiengruppen, deren Mitglieder zeitlebens zusammen bleiben. Die Weibchen scharen dabei ihre männlichen und weiblichen Nachkommen um sich, mit denen sie bis an ihr Lebensende durch die Meere schwimmen. Ein Orcaleben kann dabei bis zu 50 oder 60 Jahre lang währen. Da liegt es nahe, von besonders engen Beziehungen zwischen den Tieren zu sprechen, zumal viele ihrer Verhaltensweisen auf Kooperation angelegt sind. Jagd, Wanderungen und Aufzucht der Jungen zeigen ein hohes Maß an Koordination und Kommunikation. Die Gruppenmitglieder profitieren dabei von der Erfahrung der alten Weibchen, die als Gedächtnisträger der Orca-Kulturen fungieren.

 

Orca-Kulturen?

(c) Christopher Swann

(c) Christopher Swann

Beinhaltet der Begriff Kultur nicht die Weitergabe von Wissen auf nicht-genetischem, d.h. verhaltensbasierten Wegen? Genau das ist der Fall: Orcas zeigen ein so spezialisiertes Verhalten zwischen verschiedenen Populationen, dass man nicht umhin kann, von Traditionen zu sprechen: Norwegische Orcas jagen Heringe, indem sie mit ihren Schwänzen kräftig in die Fischschwärme hineinschlagen. Ihre kanadischen Artgenossen erbeuten Lachse oder Meerssäuger (je nachdem, zu welcher Population sie gehören), während die Schwertwale Patagoniens eine ganz andere Technik entwickelt haben: Sie werfen sich auf flache Strände, um Robben zu ergattern. All diese Verhaltensweisen werden nur von den angehörigen der jeweiligen Gruppen gezeigt. Es konnte sogar beobachtet werden, dass das Verhalten des Sich-selbst-Strandens von Müttern an ihre Nachkommen gelehrt wurde (die Tiere veranstalteten dabei „Übungsstunden“ an den Stränden, ohne dass ihre Beute anwesend war). Das Lehren von Verhalten von einer Generation an die nächste ist ein Phänomen, welches (im Gegensatz zum recht weit verbreiteten Lernen durch Nachahmung) in der Natur nur extrem selten beobachtet wird.

Und Orcas sind noch in vielen weiteren Aspekten ihrer Biologie besonders. Ihre komplexen Kommunikationsrufe unterscheiden sich ebenfalls zwischen den Gruppen: einzelne Familien haben ein eigenes Lautrepertoire, sie sprechen Dialekte. Dabei können einige Wissenschaftler nicht nur die Rufe verschiedener Familien, sondern sogar zwischen den Individuen unterscheiden. Scheinbar besitzt jeder Schwertwal seine eigene Stimmlage…

Dass es in ihren Köpfen wirklich komplex zugeht (Orcas besitzen drei Mal so große Gehirne wie wir), konnte mit so genannten Spiegelexperimenten nachgewiesen werden. Ihr Verhalten gegenüber Spiegeln, die ihnen vorgehalten wurden, legt nahe, dass sie sich darin erkennen und damit Ansätze von Selbstbewußtsein zeigen. Dasselbe wurde bisher nur bei einigen Menschenaffen (z.B. Schimpansen), Elefanten und Großen Tümmlern nachgewiesen. Ihre Stellung an der Spitze der Nahrungskette (Orcas haben keine natürlichen Feinde) ließ einige Wissenschaftler spekulieren, dass Schwertwale die einzigen Lebewesen sein könnten, die keine Angst empfinden.

 

Was nur finden sie an uns Menschen?

(c) Christopher Swann

(c) Christopher Swann

Hoch sozial, intelligent, in ihrem Verhalten extrem flexibel, bewusst handelnd und mit sichtbaren Traditionen bzw. Kulturen – kommt uns das nicht bekannt vor? Wale und Delfine wurden einmal als die „Krone der Schöpfung im Meer“ bezeichnet – kann es sein, dass Orcas diese Krone auf ihrem mächtigen schwarzweißen Kopf tragen?

Die eigentliche Frage aber lautet: warum tun diese kraftvollen Räuber dem Menschen nichts an? Sie hetzen Blauwale bis zum Tode, zerreißen Robben und Delfine, zerschmettern Dutzende Fische mit Schwanzhieben, sie fressen Haie, Rochen, Vögel – nichts scheint vor ihnen sicher. Und doch ist kein Fall in der freien Wildbahn bekannt, wo ein Orca einen Menschen angegriffen hätte – obwohl es nicht wenige Menschen gibt, die sich freiwillig zu ihnen ins Wasser begeben. Woran liegt das? Dass diese Frage offen bleibt, gehört für mich persönlich zu den größten Rätseln der Natur.

Ohne die gesamte Argumentation gegen die Gefangenhaltung von Delfinen (Orcas sind zoologisch gesehen die größten Vertreter der Delphinoidae, d.h. der „Delfinartigen“) zu wiederholen, lade ich Sie ein, sich über die Tatsache, dass wir diese faszinierenden Geschöpfe zu unserer Belustigung einsperren, Ihre eigenen Gedanken zu machen. Haben Orcas (so wie alle Tiere) nicht ihre eigene Würde? Und mißachten wir diese Würde nicht in eklatanter Weise? Nicht nur indem wir Delfinarien bauen, sondern auch indem wir ihren Lebensraum zerstören, die Meere leer fischen und verschmutzen und an der Klimaschraube drehen?

Das Meer geht uns alle an, jeden Tag. Orcas machen uns das so deutlich wie kaum eine andere Tierart.